Bergamo

Der Amtsermittlungsgrundsatz im Verwaltungsprozess

Dr. Hubertus Schulte Beerbühl, Richter am Verwaltungsgericht Münster

Cari colleghi, Chèrs collègues, Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor fast 35 Jahren saß ich – das erste und letzte Mal – im Zimmer des damaligen Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts in Münster und war ziemlich nervös. Ich hatte mich um eine Stelle in der Verwaltungsgerichtsbarkeit beworben, übrigens auch um eine Stelle in der Zivilgerichtsbarkeit. Der Präsident fragte mich, was mir denn lieber sei, in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu arbeiten oder in der Zivilgerichtsbarkeit. Ich erklärte, ich hätte immer schon mehr Interesse am Verwaltungsrecht gehabt als am Zivilrecht. Aber die Aussage langweilte ihn. Das hatte er an diesem Tag wohl schon zu oft gehört. Ich habe dann erklärt, dass es mir darum gehe, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Ich wolle lieber über den Sachverhalt so entscheiden, wie er wirklich war und ist, auch wenn der Kläger nicht in der Lage ist, sein Anliegen vernünftig zu schildern, oder das nicht will. Ich wolle im öffentlichen Interesse notfalls auch selbst aktiv werden dürfen, erklärte ich.

Wie Sie wissen bin ich Verwaltungsrichter geworden. Ob meine Erklärung den Präsidenten überzeugt hat, weiß ich nicht. Ich habe natürlich nicht gefragt. Jedenfalls erinnerte ich mich aus Anlass dieser Tagung an diese Aussage.

Ich freue mich, Ihnen – damit spreche ich unsere italienischen und französischen Freunde an – erklären zu dürfen, wie wir den Amtsermittlungsgrundsatz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren verstehen.

Der Amtsermittlungsgrundsatz gilt nicht in allen Gerichtszweigen. Er gilt insbesondere nicht in der Zivilgerichtsbarkeit. Dort ist der aus dem römischen Recht fortgeltende Grundsatz „Da mihi factum, dabo tibi ius“ anzuwenden. Diese Rechtsregel bedeutet: „Trag mir die Tatsache vor, ich werde dir sagen, was das Recht ist“. Im Zivilprozess ist es die Pflicht einer Partei, vor Gericht den Sachverhalt darzustellen. Tatsachen, die von den Parteien nicht vorgetragen werden, braucht das Gericht seiner Entscheidung nicht zugrunde zu legen. Wir nennen dieses Prinzip „Beibringungsgrundsatz“. Deswegen ist es dem Zivilgericht verboten, von Amts wegen über Tatsachen Beweis zu erheben, die zwischen den Parteien nicht umstritten sind oder von ihnen unvollständig vorgetragen werden. Nur wenn eine entscheidende Sachverhaltsfrage umstritten ist, darf und muss das Zivilgericht darüber Beweis erheben.

Dafür, dass im Verwaltungsprozess der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, gibt es gute Gründe. Ich will nur die wichtigsten nennen:

Im Verwaltungsprozess handeln wir auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Es geht um die Beziehung zwischen dem Staat und einem ihm unterworfenen Bürger. Ob die Verwaltung richtig gehandelt hat, als sie in die Rechte eines Bürgers eingriff oder ihm seinen geltend gemachten Anspruch verweigerte, hat wegen des Spannungsverhältnisses zwischen Staat und Bürger eine besondere Bedeutung. Das ist anders als ein Streit zwischen privaten Parteien des Zivilprozesses, in dem es etwa um den Mangel an einem gekauften Auto geht oder um einen Anspruch auf eine Erbschaft. Die Erfahrung zeigt, dass die Wirkung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen oft weit über den Einzelfall hinaus geht.

Die Verwaltungen sind dem Gemeinwohl verpflichtet und die Verwaltungsgerichte haben die Aufgabe, sie hierbei zu kontrollieren. Es besteht deshalb ein besonderes öffentliches Interesse an der sachlichen Richtigkeit der Entscheidung. Hierfür ist Voraussetzung – und das ist der wichtigste Maßstab für eine Entscheidung auf der Grundlage der Verwaltungsgerichtsordnung überhaupt –, dass das Gericht sich eine richterliche Überzeugung bilden kann. Dies setzt eine Erforschung des Sachverhalts voraus. Diese darf nicht aufhören, wo ein rechtlich Unerfahrener den Sachverhalt unvollständig vorträgt oder die Parteien sich über einen unzutreffenden Sachverhalt einig sind. Vielmehr darf und muss das Gericht darüber hinausgehen und nach der „wirklichen Wahrheit“ suchen.

Ich komme nun zum Gegenstand, zum Anlass und zur „Tiefe“ der Amtsermittlung. Der Amtsermittlungsgrundsatz bezieht sich auf Tatsachen, die aus der Sicht des Gerichts für die Entscheidung des Rechtsstreit von Ausschlag gebender Bedeutung sind.

Der Amtsermittlungsgrundsatz bezieht sich nur auf Tatsachen, nicht auf Rechtsfragen. Denn in Bezug auf Rechtsfragen ist das Gericht ohnehin zur Erforschung verpflichtet, ohne dass es dieses Grundsatzes bedürfte. Das gilt auch für die Feststellung ausländischen Rechts, was manchmal nicht einfach – aber sehr lehrreich – ist. Auch die Einschränkungen in der Amtsermittlungspflicht, auf die ich später zu sprechen kommen werde, beziehen sich logischerweise nicht auf Feststellung von rechtlichen Gegebenheiten, sondern nur auf tatsächliche.

Manche Details in den Akten sind interessant zu lesen. Aber natürlich bestehen keine Pflicht und auch nicht das Recht, allen Details nachzugehen, die dem Gericht unklar sind. Die Amtsermittlungspflicht gilt nur für Sachverhaltsfragen, die sich auf Begriffe des Gesetzes beziehen, auf Tatbestandsmerkmale. Und es muss für die Frage des Erfolges oder Nichterfolges des Klagebegehrens darauf ankommen, wie der Sachverhalt hinsichtlich dieser Tatbestandsmerkmale gestaltet ist oder war. Dabei ist derjenige Sachverhalt maßgeblich, der aus der Sicht des Gerichts für die Entscheidung des Rechtsstreits bedeutsam ist. Es kommt auf den Rechtsstandpunkt des Gerichts an, nicht eines Prozessbeteiligten.

Nach dem Amtsermittlungsgrundsatz haben die Tatsachengerichte – auch unabhängig von Beweisanträgen der Beteiligten – den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären.

Die Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen besteht, wenn der Kläger und der Beklagte den Sachverhalt in einem maßgeblichen Punkt unzureichend schildern. Dann muss das Gericht Anstrengungen unternehmen, die Geschehnisse von sich aus aufzuklären. Die Pflicht besteht auch dann, wenn der Kläger und der Beklagte den Sachverhalt zwar ausführlich, aber unterschiedlich darstellen. Die Pflicht besteht schließlich auch dann, wenn der Kläger und der Beklagte den Sachverhalt zwar ausführlich und übereinstimmend darstellen, das Gericht aber nicht davon überzeugt ist, dass dies der Wahrheit entspricht. Das Gericht muss von sich aus den Sachverhalt soweit erforschen, bis es sich eine richterliche Überzeugung bilden kann. Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht sagen es so:

Das Gericht muss

alle vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer Aufklärung des maßgeblichen Sachverhalts ausschöpfen,

die geeignet sein können, die für die Entscheidung erforderliche Überzeugung des Gerichts zu begründen.

Ist der Sachverhalt aus der Sicht des Gerichts aufgeklärt, soweit es für die Rechtsansicht des Gerichts darauf ankommt, endet die Amtsermittlungspflicht. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jeder theoretisch denkbaren Sachverhaltsvariante nachzugehen. Für eine weitergehende Untersuchung besteht nur Anlass, wenn anhand des Akteninhalts und des Gangs der mündlichen Verhandlung Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Sachverhalt in einer bestimmten Richtung noch aufklärungsbedürftig ist.

Drängt sich dem Tatsachengericht eine weitere Aufklärung nicht auf, so braucht es auch Vermutungen eines Beteiligten nicht weiter nachzugehen. Es braucht auch nicht von sich aus in Nachforschungen darüber einzutreten, ob vielleicht irgendein bisher nicht entdeckter Umstand auf die Rechtmäßigkeit des zu beurteilenden Verwaltungshandels von Einfluss sein könnte.

Die Einholung eines weiteren Gutachtens oder Obergutachtens steht im Ermessen des Tatrichters. Die Pflicht hierzu besteht nur dann, wenn das dem Richter vorliegende Gutachten unklar, unvollständig und widerspruchsvoll ist, also auch für den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel aufweist. Allerdings kann bei schwierigen und umstrittenen Fragen die Einholung eines weiteren Gutachtens geboten sein.

Erst dann, wenn das Gericht auf der Grundlage seiner Ansicht alle erforderlichen und tatsächlich in Betracht kommenden Aufklärungsmöglichkeiten erschöpft hat und entscheidungserhebliche Tatsachen sich dennoch nicht aufklären ließen, ist eine Entscheidung nach der materiellen Beweislast zu treffen.

Wenn Juristen Grundsätze aufstellen, dann finden sich meistens sofort auch Einschränkungen. So ist es auch hier:

Selbstverständlich endet die Pflicht des Gerichts zur Ermittlung des Sachverhalts dort, wo die Ermittlung an ihre natürlichen Grenzen stößt. Was objektiv nicht aufgeklärt werden kann, insbesondere nicht mehr aufgeklärt werden kann, dem braucht das Gericht nicht nachzugehen. So ist es zum Beispiel, wenn Urkunden nicht auffindbar sind oder keine Zeugen für einen Vorgang greifbar sind. Dann ist eine Entscheidung nach der materiellen Beweislast zu treffen.

Die Amtsermittlungspflicht endet auch dort, wo das Gesetz die Grenze setzt. Ein Beispiel: Weigert sich ein Kraftfahrer, bei der Aufklärung von Bedenken gegen seine Eignung als Kraftfahrzeugführer mitzuwirken, so kann die Verwaltungsbehörde aus diesem Verhalten schließen, dass der Kraftfahrer einen seine Eignung ausschließenden Mangel verbergen will. Deswegen ist die Entziehung der Fahrerlaubnis berechtigt, ohne dass es einer weiteren Aufklärung, insbesondere der Einholung von Gutachten, bedarf.

In einigen Rechtsgebieten ist ein Vorrang der Beurteilung durch die Verwaltung anerkannt.

Das gilt zum Beispiel im Prüfungsrecht. Die Bewertung eines zuständigen Prüfers über eine Prüfungsleistung hat das Gericht hinzunehmen. Sofern alle Bedingungen für ein ordnungsgemäßes Prüfungsverfahren eingehalten sind, hat das Gericht nicht das Recht, eine eigene Bewertung vorzunehmen.

Allerdings bezieht sich dieser Vorrang nur auf die Bewertung von Leistungen. Auf die Tatsachen, die dieser Bewertung zugrundeliegen, kann sich der Amtsermittlungsgrundsatz beziehen. Hier muss eine genaue Grenze gezogen werden. Sicher ist es noch möglich, mittels einer Beweisaufnahme zu klären, ob der Saum eines Kleides gerade oder schräg genäht worden ist. Ob aber wirklich die Speise, die ein Koch zubereitet hat, um die Prüfung zum Küchenmeister zu bestehen, schlecht geschmeckt hat, ist eine Bewertung, über die keine Beweisaufnahme zulässig ist. Eine Amtsermittlung, etwa durch Vernehmung von Zeugen, die die Speise ebenfalls probiert haben, ist ausgeschlossen.

Prognose-Entscheidungen und Risikobewertungen gehören zur Kompetenz der Verwaltung. Sie sind der Entscheidungsbefugnis der Gerichte entzogen und deshalb auch deren Sachverhaltsermittlung und schließlich auch der Amtsermittlungspflicht. Ähnliches gilt im Naturschutzrecht, wenn es zum Beispiel um die Frage geht, ob wegen einer Maßnahme eine „erhebliche Störung“ der Tierwelt zu erwarten ist.

Die Pflicht zu Sachverhaltsaufklärung findet eine weitere Grenze in der Unzumutbarkeit.

Eine Unzumutbarkeit kann sich insbesondere aus dem Prozessverhalten der Beteiligten ergeben.

Allgemein gilt: Trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes hat jeder Prozessbeteiligte im Rahmen seiner Möglichkeiten den Prozessstoff umfassend vorzutragen, also auch bei der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. Das gilt insbesondere für Ereignisse, die in seine Sphäre fallen, z.B. hinsichtlich des persönlichen Verfolgungsschicksals eines Asylbewerbers. Kommt ein Prozessbeteiligter dieser Pflicht nicht nach, obwohl es ihm ohne weiteres möglich und zumutbar wäre, hat dies „als Reflex“ eine Verringerung der Aufklärungspflicht des Gerichts zur Folge.

Das Gericht kann zum Beispiel unbeachtet lassen:

– Tatsachen, die nur der Beteiligte kennt, aber nicht nennt,

– Zeugen, deren Anschrift nur der Beteiligte kennt oder die er ohne Schwierigkeiten herausfinden kann, aber nicht nennt,

– Urkunden, die nur der Beteiligte in Händen hält, aber nicht herausgibt.

Das Gericht braucht diesen Fragen nicht weiter nachzugehen und es darf aus der fehlenden Mitwirkung des Beteiligten für seine richterliche Überzeugung Schlüsse zu ziehen.

Die Rechtsprechung ist besonders streng, wenn für einen Beteiligten ein Rechtsanwalt auftritt: Sie betont immer wieder, dass ein Tatsachengericht seine Aufklärungspflicht grundsätzlich dann nicht verletzt, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die eine anwaltlich vertretene Partei nicht beantragt hat. Denn das Gericht darf in der Regel davon ausgehen, dass die Partei zumindest alle diejenigen Beweismöglichkeiten substantiiert aufzeigt, die in ihren Erkenntnisbereich fallen. Der Richter muss, wenn kein Beweisantrag gestellt wird und auch keine Beweisanregungen erfolgen, nur dann von Amts wegen Beweis erheben, wenn sich ihm ein solches Vorgehen gleichwohl aufdrängen musste.

Wird der Amtsermittlungsgrundsatz eingeschränkt durch den personellen, sachlichen oder finanziellen Aufwand, den die Sachverhaltsaufklärung mit sich bringen würde? Dabei müssen die Gerichte sehr zurückhaltend sein! Hierzu zwei Beispiele aus der Rechtsprechung:

Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat eine Beweisaufnahme mit der Begründung abgelehnt, die Durchführung der Beweisaufnahme würde die Grenzen der Zumutbarkeit sprengen – es ging um die vom Kläger beantragte Vernehmung von 20.000 türkischen Asylbewerbern. Das war rechtmäßig.

In einem anderen Fall hatte ein Gericht ein Gutachten durch einen Sachverständigen nicht eingeholt, weil es um einen Streitwert von nur etwa 210 Euro ging; denn das sei „höchst unökonomisch“. Das war nicht zulässig.

Zwar ging es in beiden Fällen um die Ablehnung eines Beweisantrages eines Klägers. Der Maßstab für die Beweisaufnahme wegen eines Beweisantrags eines Prozessbeteiligten und der Maßstab für die Beweisaufnahme von Amts wegen sind jedoch derselbe.

Natürlich stellt es keinen vernünftigen Grund dar, den Sachverhalt nicht von Amts wegen zu ermitteln, weil das Gericht bereits vom Gegenteil überzeugt ist.

Auch wenn ein Gericht glaubt sicher zu wissen, dass die Beweisaufnahme ein bestimmtes Ergebnis haben wird, ist die Tatsache damit noch nicht bewiesen – jedenfalls nicht, solange das Gegenteil noch theoretisch möglich ist. Einer Aussage von vorneherein jeden Beweiswert abzusprechen, ist unzulässig. Auch die bloße Unwahrscheinlichkeit einer behaupteten Tatsache rechtfertigt es nicht, eine Beweisaufnahme zu unterlassen, deren negatives Ergebnis nur unwahrscheinlich war, aber nicht mit Sicherheit vorausgesehen werden konnte.

Eine andere Frage ist allerdings, ob das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde hat. Dann ist die Tatsache „gerichtsbekannt“ und braucht nicht erst durch eine Beweisaufnahme geklärt zu werden. Das Gericht kann grundsätzlich nach eigenem Ermessen beurteilen, ob es selbst die erforderliche Sachkunde hat, um eine umstrittene Sachverhaltsfrage zu beantworten. Es verletzt aber das Verfahrensrecht, wenn es die Grenze der ihm zur Verfügung stehenden Sachkunde überschreitet.

Schließlich möchte ich einen Grundsatz hervorheben, den das Bundesverwaltungsgericht schon vor vielen Jahren betont hat. Diesen Rechtssatz kennt eigentlich jeder deutsche Verwaltungsrichter. Die deutschen Kollegen haben vielleicht schon seit 20 Minuten auf diesen Lehrsatz gewartet. Es ist das Verbot, „ungefragt“ auf die Suche nach Fehlern im Verhalten der Verwaltung zu gehen. In welchem Umfang es befolgt wird, ist äußerst unterschiedlich und hängt von der jeweiligen Richterpersönlichkeit ab.

Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits im Jahr 1977 zur Frage der Überprüfung von ganz alten Bebauungsplänen gesagt:

Gerichte dürften nicht „ohne Not“ solche Pläne für ungültig erklären mit der Begründung, sie seien verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Wenn die Verwaltungsgerichte ihre Sachaufklärungspflicht zum Anlass nähmen, gleichsam „ungefragt“ in eine Suche nach Fehlern in der Vorgeschichte und Entstehungsgeschichte des Bebauungsplans einzutreten, wäre das verfehlt.

Später, im Jahr 2002, hat das Gericht ausgeführt: „Was im Einzelfall sachgerecht ist, lässt sich nicht abstrakt und allgemein gültig festlegen; denn es handelt sich dabei letztlich um ein Problem der richtigen Balance zwischen Exekutive und Judikative. Im Vordergrund der Überlegungen des Gerichts sollte daher stets der Rechtsschutzgedanke stehen: Eine „ungefragte“ Fehlersuche, die das eigentliche Rechtsschutzbegehren des Klägers oder Antragstellers aus dem Auge verliert, ist im Zweifel auch nicht sachgerecht.“ … „Die Handhabung der richterlichen Fehlersuche wird stets eine Frage des Fingerspitzengefühls im Einzelfall sein.“

Zu den Mitteln, die im Rahmen der Amtsermittlung Bedeutung haben, gehört alles, was in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren in Frage kommt. Das sind zu allererst die Akten der Behörde. Dass diese bei der Aufklärung des Sachverhalts zu Rate gezogen werden müssen, ist selbstverständlich. Beweismittel sind:

der Beweis durch Vorlage einer Urkunde,

der Beweis durch Augenschein,

der Beweis durch das Gutachten eines Sachverständigen,

der Zeugenbeweis und

unter Umständen auch der Beweis durch Parteivernehmung.

Unterlässt das Gericht eine sachlich mögliche und von der Sache her notwendige weitere Aufklärung, so verletzt es seine Amtsermittlungspflicht. Das bedeutet grundsätzlich einen wesentlichen Verfahrensfehler.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich habe versucht, Ihnen das Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft über den Amtsermittlungsgrundsatz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu erläutern.

Ich habe, falls mein Computer sich nicht verzählt hat, bis hierher insgesamt 2.511 Wörter über die Amtsermittlungspflicht gesprochen. Mehr als die Hälfte davon, nämlich 1.386, betrafen die Grenzen und Einschränkungen dieser Pflicht. Bitte ziehen Sie daraus nicht die falschen Schlüsse! In unserer täglichen Arbeit steht die Pflicht zur Amtsermittlung im Vordergrund und nicht deren Einschränkung.

Aber bitte bedenken Sie: Es ist einfach, die theoretischen Ansätze in Lehrbüchern und Kommentaren zu schreiben und hohe Anforderungen zu stellen. Es ist nicht erstaunlich, dass die „reinen Wissenschaftler“ eine sehr weite Auffassung von der Amtsermittlungspflicht haben. Gerichte haben aber auch die Pflicht, Verfahren zügig und nachvollziehbar zu entscheiden. Und sie müssen manchmal die Kläger vor sich selbst und hohen Kosten schützen. Deshalb sieht die Praxis im Gerichtssaal manchmal etwas anders aus.

Das ist eben eine Frage des „Fingerspitzengefühls im Einzelfall“.

Je vous remercie pour votre attention! Mille gracie per la vostra attenzione! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Den Vortragstext samt Fußnoten können Sie hier (PDF, 168 KB) herunterladen.
Die übrigen Länderberichte finden Sie unter Links/Downloads

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