Die Befugnis des Richters zur Überprüfung von Gesetzen und untergesetzlichen Normen
Dr. Hubertus Schulte Beerbühl, Richter am Verwaltungsgericht Münster
Ausgangspunkt der Überlegungen aus deutscher Sicht kann nur das deutsche Grundgesetz, also die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, sein, aus dem die Rechtsprechung ihren Auftrag herleitet. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz sagt: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Das Handwerkszeug, mit dem wir deutschen Verwaltungsrichter den Rechtsschutz zu gewähren haben, steht in Art. 20 Abs. 3, 2. Halbsatz Grundgesetz: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Die richterliche Unabhängigkeit ist durch Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz garantiert: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Auf den ersten Blick geben diese Bestimmungen eine einfache Antwort auf unsere Frage: Man könnte sagen: Die Rechtsprechung, also auch der Verwaltungsrichter, ist an das Gesetz gebunden; der Richter hat das Gesetz, wie er es in den Gesetzessammlungen vorfindet, hinzunehmen und anzuwenden. Ob das auch dann gilt, wenn er davon überzeugt ist, dass das Gesetz ungültig ist, darf man allerdings bezweifeln. Darauf will ich später genauer eingehen. Auch stellt sich die Frage, was der Verfassungsgeber mit „Gesetz“ gemeint hat.
– Hat er damit wirklich nur das Gesetz im formellen Sinn gemeint?
– Oder zählen dazu auch
– Satzungen, die zum Beispiel von Gemeindeparlamenten geschaffen wurden,
– Verordnungen die von der Verwaltung erlassen wurden?
– Und wie ist es mit Verwaltungsvorschriften?
Diese Fragen will ich ebenfalls untersuchen.
Bleiben wir zunächst bei dem Gesetz. Wenden wir uns der Frage zu, ob der deutsche Richter ein Gesetz oder eine Bestimmung aus dem Gesetz anwenden muss, obwohl er – zumindest – Zweifel an der Wirksamkeit hat. Die Antwort möchte ich vorweg nehmen: Diesen „blinden“ Gehorsam kennt das deutsche Recht nicht. Der Richter ist nicht gezwungen, ein Gesetz anzuwenden, von dem er überzeugt ist, dass es nicht wirksam ist. Bis der Richter zu der Erkenntnis gekommen ist, ein Gesetz sei unwirksam, und bis er zu dem Entschluss gekommen ist, dieses Gesetz nicht anzuwenden, ist es oft ein weiter Weg. Dies setzt zunächst setzt den Willensakt des Richters voraus, die Frage nach der Gültigkeit des Gesetzes zu stellen; er muss den Weg der Untersuchung der Gültigkeit gehen; und er muss bereit sein, die entsprechenden Folgerungen zu ziehen.
Wann darf oder muss der deutsche Verwaltungsrichter sich veranlasst sehen, mit der Untersuchung der Gültigkeit einer Norm zu beginnen?
Zunächst möchte ich betonen, dass der Richter nach heutigem Rechtsverständnis das Recht zur Prüfung der Gültigkeit der Norm hat. Das war nicht immer anerkannt. Diese Auffassung setzte sich erst in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durch. Man räumte dem Richter zunächst das Recht ein, die Gültigkeit eines Landesgesetzes zu überprüfen, später auch die Gültigkeit eines Bundesgesetzes. Der Richter sei zwar an das Gesetz gebunden, aber nur an das gültige Gesetz. Deshalb müsse er prüfen können, ob das Gesetz gültig sei.(1)
Aber hat der Richter, der das Recht hat, eine Norm auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen, damit auch gleichzeitig die Pflicht, dies zu tun? Um mit den einfachsten Situationen zu beginnen: Wenn ihm die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Gesetzes bekannt ist, wird er dies berücksichtigen müssen.
– Für die Standardwerke unserer täglichen Arbeit wird er von der Gültigkeit ausgehen dürfen und müssen. Sicher hat schon vor Jahren jemand die Frage der Gültigkeit überprüft und die Wirksamkeit bejaht.
– Von der Ungültigkeit eines Gesetzes wird er ausgehen müssen, wenn das dazu berufene Verfassungsgericht dies bindend festgestellt hat.
Wenn weder die Gültigkeit noch die Ungültigkeit des Gesetzes feststehen, muss der deutsche Richter eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen, ob er diese Frage beantwortet.
– Rügt keiner der Beteiligten die Ungültigkeit des Gesetzes, so wird der Richter die Frage nicht aufwerfen; denn dafür ist sie zu aufwendig und zu wenig Erfolg versprechend. Zu prüfen, ob im Gesetzgebungsverfahren ein Fehler unterlaufen ist, erfordert eine Analyse von Vorgängen, auf die der Richter nicht ohne Weiteres Zugriff hat. Materiell-rechtliche Fragen, insbesondere verfassungsrechtliche Fragen zu beantworten, ist sehr zeitaufwendig.
– Rügt einer der Beteiligten die Ungültigkeit eines Gesetzes und ist die Gültigkeit entscheidend für den Rechtsstreit, darf der Richter nicht einfach über die Frage hinweggehen. Je nachdem ob die Argumentation des zweifelnden Beteiligten konkret ist, wird sich der Richter auf diese Diskussion einlassen müssen oder nicht.
Im Folgenden werde ich kurz die Maßstäbe für die Prüfung der Gültigkeit eines Gesetzes darstellen.
– Gegenstand der Untersuchung durch den Richter können die Bestimmungen über Rechte und Pflichten der Staatsorgane und Verfahrensvorschriften wie Mitwirkungsrechte sein.
– In der so genannten materiellen Verfassungskontrolle wird die inhaltliche Vereinbarkeit des Gesetzes mit höherrangigen Normen untersucht. Auf diese will ich nun näher eingehen.
Vor allem kann ein Bundesgesetz wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz ungültig sein, ein Landesgesetz außerdem noch wegen Verstoßes gegen die Landesverfassung oder gegen ein Bundesgesetz. Prüfungsmaßstab sind insbesondere die Grundrechte, die institutionellen Garantien und die Prinzipien der Verfassung (hierzu zählt etwa das Bestimmtheitsgebot.(2))
Zu dem in Deutschland geltenden Recht gehört auch das Gemeinschaftsrecht. Das Grundgesetz oder ein anderes Gesetz der Bundesrepublik Deutschland enthalten keine ausdrückliche Kollisionsregelung, anders als übrigens die Verfassung der Niederlande. Das gilt auch für das Gemeinschaftsrecht selbst.
Ein Widerspruch zu den Bestimmungen des europäischen Gemeinschaftsrechts führt nicht zur Nichtigkeit oder Ungültigkeit des nationalen Rechts. Aus der Pflicht zur Gemeinschaftstreue wird aber abgeleitet, dass die nationalen Behörden und Gerichte verpflichtet sind, die nationalen Regelungen „in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden“.(3)
Unter Umständen ist eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union(4) einzuholen. Nur wo dieser Konfliktregelungsmechanismus versagt, liegt ein echter Kollisionsfall vor, der zur Verdrängung der staatlichen Bestimmungen führt. Jedes mitgliedsstaatliche Gericht ist aus eigener Entscheidungsbefugnis berechtigt und verpflichtet, europarechtswidrige Bestimmungen des nationalen Rechts unberücksichtigt zu lassen.(5)
Bevor der Richter zu der abschließenden Entscheidung kommt, das Gesetz sei unwirksam, hat er sorgfältig zu untersuchen, ob dieses Ergebnis zwingend ist. Insbesondere muss er die Möglichkeiten einer verfassungskonformen Auslegung ausschöpfen. Kann er durch Gesetzesauslegung zu dem Ergebnis gelangen, das Gesetz sei mit dem Grundgesetz vereinbar, so hat er diese Interpretation seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
Welche Rechtsfolgen ergeben sich, wenn der Richter von der Ungültigkeit einer gesetzlichen Bestimmung überzeugt ist? Mit dem Grundgesetz hat der deutsche Verfassungsgeber dem einzelnen Richter das Recht entzogen, ein Gesetz zu verwerfen.
Art. 100 Grundgesetz lautet: „Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat der Richter das Recht und die Pflicht, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes beziehungsweise des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.“
Ziel dieser Monopolisierung bei den Verfassungsgerichten ist, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren und ein aufgesplittertes Recht zur Prüfung zu vermeiden.(7)
Eine Vorlage an das Verfassungsgericht ist nur dann berechtigt, wenn das vorlegende Gericht davon überzeugt ist, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. Zweifel oder bloße Bedenken reichen nicht aus.(8)
Wenn nach Ansicht des Richters ein Gesetz gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstößt, ist das kein Grund, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Denn in diesem Fall ist die Gültigkeit des Gesetzes nicht entscheidungserheblich. Es ist vielmehr „einfach“ nicht anzuwenden.
Ist eine Regelung in einem Gesetz unwirksam, führt dies nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit weiterer Bestimmungen oder des ganzen Gesetzes. Diese Wirkung tritt nur ein, wenn die Bestimmungen insgesamt eine untrennbare Einheit bilden.(9) Dies nennen wir den „Grundsatz der Normerhaltung“(10)
Ich komme nun zu der Frage des Umgangs des deutsche Richters mit untergesetzlichen Normen. Hierbei untersuche ich zunächst Verordnungen und Satzungen. Art. 80 Grundgesetz bestimmt, dass die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen durch Gesetz ermächtigt werden können, Rechtsverordnungen zu erlassen. Verordnungen haben, ähnlich wie Gesetze, einen abstrakt-generellen Regelungsgehalt und werden von der Exekutive erlassen. Während aber in einem Gesetz die wesentlichen Fragen behandelt werden, regelt die Rechtsverordnung deren Durchführung. Sie dient der Entlastung der parlamentarischen Gesetzgebungstätigkeit. Weil die Rechtsverordnungen ihre verfassungsrechtliche Legitimation haben und wenn sie wirksam sind, haben die deutschen Gerichte sie anzuwenden. Denn die Exekutive handelt bei ihrem Erlass als „verlängerter Arm“ des Gesetzgebers.
Deshalb gilt der Satz, dass der Richter an Recht und Gesetz gebunden ist, auch für sie. Der Richter hat von Amts wegen festzustellen, ob die Verordnung wirksam ist.
Jedoch sollten nicht ohne Anlaß Untersuchungen zur Rechtsgültigkeit (zum Beispiel von Prüfungsordnungen) angestellt werden, sondern nur, wenn sich – insbesondere wegen des darauf gerichteten Parteivortrags – Zweifel aufdrängen.(11)
Rechtsverordnungen sind in hohem Maße fehleranfällig. Sie werden oft in einem nicht klar definierten Verfahren erlassen und von Personen, die wenig juristisch geschult sind. Auch besteht die Gefahr eines Verstoßes gegen das Gewaltenteilungsprinzip; denn schließlich steht das Recht, Recht zu setzen, der ersten Gewalt, der Gesetzgebung, zu. Die Exekutive darf nicht nach Belieben Verordnungen zu erlassen und auf diese Weise neben den eigentlichen Gesetzgeber zu treten(12).
Manche Rechtsverordnungen existieren schon lange und sind in der Rechtsanwendung seit Jahrzehnten nicht mehr wegzudenken; Zweifel an ihrer Wirksamkeit dürften kaum bestehen. Das gilt sicher für die Baunutzungsverordnung. Diese regelt unter Anderem, welche Festsetzungen in einem Bebauungsplan getroffen werden können und in welcher Weise die Grundstücke für Bauvorhaben planungsrechtlich genutzt werden dürfen. Prüfungsordnungen hingegen sind deutlich fehleranfälliger. Ein inhaltlicher Mangel kann etwa darauf beruhen, dass einzelne Regelungen die Chancengleichheit der Prüflinge nicht genügend gewährleisten oder Bewertungsvorschriften zu willkürlichen Prüfergebnissen führen können.
Für technische Normen gelten Besonderheiten. Diese beruhen darauf, dass der Verwaltung ein gewisses normsetzendes Ermessen zugestanden wird. Und wenn die Verwaltung beim Erlass von Verwaltungsakten in einem bestimmten Umfang Ermessen ausüben kann, kann sie das auch, wenn sie abstrakt-generelle Normen erlässt. Beim Erlass von Verordnungen ist oft eine Beteiligung sachverständiger Kreise oder besonderer Gremien vorgesehen. Auch deshalb ist bei der gerichtlichen Kontrolle Zurückhaltung geboten.(13)
Wie ich ausgeführt habe, hat der deutsche Richter bei einem Gesetz, das er für ungültig hält, das Verfahren auszusetzen und die Frage dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Eine ungültige Rechtsverordnung hingegen darf und braucht er nicht anzuwenden. Er darf sie selbst „verwerfen“. Eine Vorlage an das Verfassungsgericht ist nicht vorgesehen und unzulässig.
Die Unwirksamkeit einer Verordnung führt dazu, dass sie rechtsungültig ist. Das kann aber unter Umständen zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, etwa wenn eine Norm in einer Prüfungsordnung rechtswidrig ist. Wenn eine Prüfungsentscheidung Gegenstand einer Anfechtungsklage ist, müsste die gesamte – negative – Prüfungsentscheidung für rechtswidrig erklärt und aufgehoben werden. Damit hat aber der Kandidat die Prüfung noch nicht bestanden. Ohne gültige Prüfungsordnung wird er sein Ziel noch weniger erreichen können als zuvor. Dann ist es hilfreich, wenn nur bestimmte Regelungen nicht angewendet werden. Eventuell kann anhand der verbleibenden Regelungen eine fehlerfreie Bewertung vorgenommen werden.(14) Auch hier gilt der Grundsatz der Normerhaltung. Ist dessen Anwendung nicht möglich,
muss die Prüfungsordnung in einem fehlerfreien Verfahren bzw. mit einem fehlerfreien Inhalt neu in Kraft gesetzt werden. Dann kann der Kandidat auf dieser Grundlage eine neue Prüfung versuchen.
Auch öffentlich-rechtliche Satzungen sind untergesetzliche Normen. Sie unterscheiden sich von den Rechtsverordnungen insbesondere dadurch, dass sie nicht unmittelbare staatliche Aufgaben erfüllen, sondern Selbstverwaltungsaufgaben. Zum Beispiel Gemeinden, Hochschulen und Rundfunkanstalten haben die Befugnis, ihre innere Ordnung und die Bewältigung ihrer Aufgaben in relativer Unabhängigkeit selbst zu regeln. So können Gemeinden die planungsrechtliche Zulässigkeit von Bauvorhaben auf ihrem Gebiet selbst bestimmen. Für sie ist keine besondere „Verordnungsermächtigung“ (wie in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz) erforderlich. Verfahrens- oder Formvorschriften für sie sind aber oft in Gesetzen Normen geregelt. Das gilt zum Beispiel für Bebauungspläne, die als Satzungen erlassen werden (§ 10 Abs. 1 BauGB). Auch die Gültigkeit von Satzungen hat der Richter von Amts wegen zu überprüfen.(15)Aber auch für sie gilt, was ich zu Gesetzen und Rechtsverordnungen gesagt habe und mit den Worten des Bundesverwaltungsgerichts wiederholen möchte:
„Eine „ungefragte“ gerichtliche Fehlersuche ist im Zweifel dann nicht sachgerecht, wenn sie das Rechtsschutzbegehren des Klägers aus dem Auge verliert.“(16) Und zu einer gemeindlichen Gebührensatzung: „Es entspricht in der Regel nicht einer sachgerechten Handhabung der gerichtlichen Kontrolle, die Abgabenkalkulation eines kommunalen Satzungsgebers „ungefragt“ einer Detailprüfung zu unterziehen.“(17)
Für die Frage der Befugnis des Richters, eine Satzung wegen Ungültigkeit nicht anzuwenden, gilt das, was ich soeben zur Rechtsverordnung gesagt habe: Er darf und braucht eine ungültige Satzung nicht anzuwenden; eine Vorlage an ein Verfassungsgericht ist nicht erforderlich und nicht vorgesehen.(18) Auch im Bereich von Satzungen gilt der Grundsatz der Normerhaltung. Von der Rechtsverordnung und der Satzung ist die Verwaltungsverordnung (oder auch: Verwaltungsvorschrift) zu unterscheiden. Sie regelt den exekutiv-internen Bereich der Verwaltung und ist eigentlich als Handlungsanweisung an nachgeordnete Behörden vorgesehen. Anders als Gesetze, Rechtsverordnungen oder Satzungen können sie nicht schon durch ihr Vorhandensein Rechte des Bürgers begründen oder beschränken. Zu ihnen zählen auch technische Anleitungen, die dazu dienen, Normen (im Sinne von Gesetzen) zu interpretieren. Da der Richter sie nicht im eigentlichen Sinn anwendet, stellt sich auch nicht die Frage, ob er befugt ist, sie zu überprüfen. Er kann sie selbstverständlich unberücksichtigt lassen, wenn er sie für fehlerhaft hält.
Ich fasse zusammen:
Die Frage war: Hat ein Richter „Die Befugnis … zur Überprüfung von Gesetzen und untergesetzlichen Normen“?
Die Antwort ist: Ja, er hat sie.
Die Rechtsprechung ist an das Gesetz gebunden. Aber ein Gesetz, das nicht wirksam ist, ist kein Gesetz in diesem Sinne. Auch eine auf Grund eines Gesetzes erlassene Verordnung oder eine Satzung sind, wenn sie nicht wirksam sind, rechtlich nicht existent. Beides, gesetzliche und untergesetzliche Normen, darf ein Richter nicht anwenden und braucht ein Richter nicht anzuwenden.
Will der Richter eine sachgerechte Entscheidung treffen, muss er wissen, ob die maßgebliche Norm wirksam ist oder nicht. Das zwingt nicht beispielsweise zu einem Suchen nach schwer auffindbaren Gesetzesmaterialien, wenn kein Anlass zu Zweifeln besteht. Im Rechtssinne „darf“ er es, es ist ihm „erlaubt“. Sinnvoll ist es aber nur, wenn konkreter Anlass dazu besteht. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Verfahrensbeteiligter konkrete Fehler rügt, die zur Ungültigkeit führen können.
Die Rechtsfolge seiner Erkenntnis von der Unwirksamkeit der Norm ist abhängig von der Art der fraglichen Norm und der Art der Norm, gegen die die Norm verstößt:
– Verstößt ein Gesetz gegen Europarecht, hat der Richter das Gesetz unanwendbar zu lassen.
– Verstößt ein Gesetz gegen Verfassungsrecht, hat er das Verfahren auszusetzen und die Frage der Gültigkeit dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.
– Verstößt eine Rechtsverordnung oder eine Satzung gegen höherrangiges Recht, wendet er sie nicht an; er hat die Rechtslage so zu beurteilen, wie sie ohne die Verordnung oder Satzung ist. Das gilt erst recht für Verwaltungsvorschriften, die keine Normen im eigentlichen Sinn sind.
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1 Reichsgericht, Urteil vom 4. November 1925 -V 621/24 -, RGZ Bd. 111 S. 320
2 Der Bestimmtheitsgrundsatz verpflichtet den Normgeber, seine Vorschriften so zu fassen, dass sie den rechtsstaatlichen Anforderungen der Klarheit und Justiziabilität entsprechen. Normen müssen so formuliert sein, dass die davon Betroffenen die Rechtslage erkennen können und die Gerichte in der Lage sind, die Anwendung der betreffenden Vorschriften durch die Verwaltung zu kontrollieren. Gleichwohl darf das Gebot der Bestimmtheit nicht übersteigert werden, weil die Normen sonst allzu starr und kasuistisch würden und der Vielgestaltigkeit des Lebens oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden könnten. Der Normgeber ist nicht verpflichtet, jeden Tatbestand mit exakt erfassbaren Merkmalen bis ins Letzte zu umschreiben. Er wird allerdings durch das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist; Bayerischer VGH, Beschluß vom 16. Dezember 2010 – Vf. 6-VII-10, zitiert nach juris.
3 Direkte Kollisionen sind so im Wege der „gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung“ (so genannter Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts) zu vermeiden; EuGH, Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaft –
4 früher: Art. 234 des Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV)
5 Kettner in: Bergmann/Kettner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 73; weder ist die in Art. 100 Abs. 1 GG statuierte Pflicht zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht anwendbar noch ist durch Europarecht ein Verwerfungsmonopol vorgesehen.
6 BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2010 – 2 BvL 16/09 -; BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 1992 – 1 BvL 21/88 – ; BVerwG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 1 BvL 7/89 -: Der Grundgedanke des Art. 100 Abs. 1 GG, die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung zu wahren, gebietet es, dass das Gericht sich seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm in Auseinandersetzung mit den hierfür wesentlichen Gesichtspunkten, insbesondere auch den Erwägungen des Gesetzgebers, bildet, bevor es das Bundesverfassungsgericht anruft.
7 Maunz-Dürig-Herzog (Maunz) Art. 100 Rdnr. 1
8 Maunz-Dürig-Herzog (Maunz), Art. 100 Rdnr. 35 mwN. Für einen solchen Vorlagebeschluss sind auch ansonsten die Hürden recht hoch gelegt. Dem Beschluss muss mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, dass und aus welchen Gründen das Gericht bei Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit. Das Gericht muss sich mit der Rechtslage auseinandersetzen, die in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen berücksichtigen und auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten eingehen, soweit diese für die Entscheidungserheblichkeit von Bedeutung sein können. Die Darlegungen zur Verfassungswidrigkeit der Norm müssen den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für die Überzeugung des Gerichts maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar darlegen. Dabei muss das Gericht jedenfalls auf naheliegende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte eingehen. Insbesondere kann es erforderlich sein, die Gründe zu erörtern, die im Gesetzgebungsverfahren als für die gesetzgeberische Entscheidung maßgebend genannt worden sind.
9 Nämlich nur dann, „wenn sie mit diesen eine untrennbare Einheit bilden, die lediglich um den Preis von Sinnverlust, Rechtfertigungswegfall oder Verfälschung der gesetzgeberischen Intention in ihre Bestandteile zerlegt werden könnte“; BVerfG, a.a.O. Darüber hinaus erklärt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung auch eine Rechtsnorm, deren Wortlaut mehrere inhaltlich abgrenzbare, textlich aber nicht isolierbare Regelungen umfasst, grundsätzlich nur hinsichtlich des verfassungswidrigen Norminhalts für nichtig, ohne dabei den Normtext zu verändern; vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2010 – 2 BvL 16/09 –
10 BVerfG, Beschluss vom 9. August 1978 – 2 BvR 831/76 -;
11 Vgl. z. B. BVerwG Urteil vom 7.9.1979 – Az. 4 C 7.77 -; Urteil vom 17.6.1993 – Az. 4 C 7.91 -; Beschluss vom 12.9.1989, – 4 B 149.89 -; für Prüfungsordnungen: Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Bd. 2, Rdnr. 74; BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 –
12 Grundsatz des „Vorbehaltes des Gesetzes“
13 Maunz-Dürig-Herzog (Maunz), Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 206
14 Niehues, a.a.O., Rdnr. 73
15 Dies bedeutet mit Blick auf den Prüfungsgegenstand, dass sich die Überprüfung eines Bebauungsplans im Rahmen der Inzidentkontrolle – anders als bei der abstrakten Normenkontrolle nach § 47 VwGO – auf die konkret und substantiiert geltend gemachten Einwendungen sowie auf sonstige, sich als offensichtlich aufdrängende Mängel beschränken kann. Im Gegensatz zu der abstrakten Normenkontrolle nach § 47 VwGO dient die Inzidentkontrolle nur dem subjektiven Rechtsschutz und hat nicht den Charakter eines objektiven Rechtsbeanstandungsverfahrens.
16 BVerwG, Urteil vom 17. April 2002 – 9 CN 1/01 –
17 BVerwG, a.a.O.
18 Für Bebauungspläne (theoretisch auch für andere untergesetzliche Normen) gibt es eine weitere Besonderheit: Sie können dadurch ungültig werden, dass sie „funktionslos“ werden. Das kann für den gesamten Bebauungsplan eintreten, insbesondere aber für bestimmte Festsetzungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (zuletzt: Beschluss vom 22. Juli 2010 – 4 B 22/10 -) tritt eine bauplanerische Festsetzung wegen Funktionslosigkeit außer Kraft,
– wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt
– und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt.